Hans Graeder wird am 15.7.1919 in Mannheim geboren. Der Vater ist Kaufmann, die Familie lebt im Stadtteil Lindenhof und in der Innenstadt. Der älteste Bruder Hermann ist 1915 geboren, sein jüngerer Bruder Helmut 1922, seine Schwester Gertrude 1920.
Schon sehr früh zeigt sich seine zeichnerische Begabung. Und so beginnt er 1934 nach acht Jahren Volksschule eine vierjährige Ausbildung zum Lithografen in Mannheim und arbeitet im Anschluss als Geselle in der Lithografie- und Steindruckerei Thomas Seitz in S 6, 27.
Die Härte des Boxens prägt nicht nur sein Leben, sondern auch seine Kunst.
In den 1980er-Jahren, zu einem Vergleich zwischen dem Boxen und seiner Kunst befragt, antwortet er:
Graeders Biografie und vor allem sein künstlerisches Arbeiten ist nicht ohne die Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs zu verstehen.
Diese Zeit hat ihn geprägt und in seinen künstlerischen Arbeiten Spuren hinterlassen.
Die Arbeiten aus seiner Schulzeit zeigen, wie das nationalsozialistisches Gedankengut ganz selbstverständlich in das Leben der Kinder einfließt.
1939 wird Graeder zum Reichsarbeitsdienst eingezogen, 1940 zum Kriegseinsatz nach Ostrów Wielkopolski / Polen abkommandiert.
Das private Fotoalbum der Familie Graeder zeigt die Kriegsstationen und ist Seismograf einer allmählich einsetzenden realistischeren Wahrnehmung des Kriegs und sinkender Euphorie.
Zeigen die Fotografien bei Kriegsanfang mit dem "jubelnden Einzug in Paris", noch lachenden Kameraden beim Feiern, ändern sie sich mit seinem Einsatz in der Ukraine und Rumänien.
Sie zeigen die Zerstörungen durch Bombenabwürfe, die Armut und das elende Leben der Menschen auf dem Land, vor allem der Roma.
1943/44, nach einer Verwundung beurlaubt, besucht Graeder die Freie Akademie Mannheim.
Sein Versuch von einem weiteren Kriegseinsatz befreit zu werden, scheitert: Er wird nach Frankreich abkommandiert und kommt 1945 in Marseille in Kriegsgefangenschaft.
1947 stellt er im Grafiksaal der Kunsthalle Mannheim aus.
Seine Arbeiten fallen durch ihre zeichnerische Virtuosität auf. Heinz Fuchs, der damalige Direktor, ist von dem Fixieren der Eindrücke und dem Blick für das Motiv angetan.
Für seine Zeichnungen entwickelt er ein feuchtes Wischverfahren, das er auch in den späteren Jahren weiterverwendet. Das Verfahren gibt den Zeichnungen den Charakter gedruckter Blätter.
Nach 1945 kauft niemand Kunst. Graeders Familie betreibt ein Lebensmittelgeschäft, um ein Auskommen zu finden.
In Rockford/Illinois, westlich von Chicago, wagt er den Neuanfang. Um den Lebensunterhalt zu sichern und um die Sprache zu lernen, arbeitet er zunächst in einer Eisengießerei, später auch als Boxer. Sein Ziel bleibt aber, sich als Künstler selbständig machen.
1955 hat er in Rockford seine erste Ausstellung in den USA. Die harte Arbeit in der Eisengießerei prägt die Formensprache seiner "Eisenbilder" – auf deren Oberfläche bemalte Figuren aus gegossenem Eisen kleben.
Nachts zieht er durch Bars und zeichnet Porträts. 1958 wird er Staatsbürger der USA, 1959 zieht er nach Los Angeles, Kalifornien, 1959 nach Phoenix, Arizona.
Mit Wandgemälden verdient Graeder viele Jahre seinen Unterhalt.
Erotische Szenen aus dem antiken Pompeji für den berühmten Nachtclub Ciro‘s auf dem Sunset Boulevard in Hollywood oder Patriotisches aus der Geschichte der USA für das Hotel Ocean House in San Diego. Keine Auftragsarbeit ist ihm zu banal.
Seine solide Ausbildung als Lithograf und seine zeichnerische Begabung ist sein Kapital. Er bedient jeden Geschmack der Auftraggeber, immer in ganz unterschiedlichem Stil und in unterschiedlicher Technik.
Mit viel Engagment stürzt er sich in das Kunstleben und engagiert sich in der Kulturpolitik der Stadt.
Und er findet auch eine neue Liebe: Gisela Neidig.
Die Arbeiten, die Graeder in der großen Einzelausstellung im Herbst 1965 in der Kunsthalle Mannheim präsentiert, verstören mit ihrer kompromisslosen Härte, Wucht und körperhafte Präsenz.
Die Kompositionen auf den großformatigen Arbeiten erinnern an Keile, Balken, Gitter, manchmal auch an Körperteile und menschliche Gelenke.
Die Farbigkeit ist reduziert auf Grau- und Schwarztöne. Oberflächen treten aus dem Bild heraus, oft zerkratzt, die Farben mit Sand vermischt.
1969/70 entsteht eine verstörende Serie von Papierarbeiten, in der Graeder eine erschreckende Sicht auf den Menschen zeigt.
Figuren in Überlängen und Verzerrungen, gefaltet wie ein Blatt Papier, verschmelzen mit Tischen und Stühlen, sind verstümmelt am Boden, plattgedrückt oder liegen in ausgehobenen Gruben.
Schnitte auf den Pappen deuten Räume und Fußböden an.
o.T. (Körperteile in rotem Raum), 1969, Mischtechnik u. Kugelschreiber auf Karton, 45 x 59
o.T. (Körperteile vor hellblauer Fläche), Mischtechnik auf Karton, 1969, 45 x 60
Ab den späten 1970er-Jahren kehrt der Mensch mit leidenschaftlicher Vehemenz in Graeders Arbeiten zurück, vor allem Porträts, die man aber eher als "Kopf-Bilder" bezeichnen muss.
Sehr expressiv deformiert er diese Köpfe, setzt sein ganzes Repertoire an Techniken ein, arbeitet mit Spiegeleffekten und mit Collage-Elementen.
Die Dreidimensionalität der Figuren aus den Papierarbeiten führt Grader in den 1980er-Jahren in einer anderen Technik weiter, die er als „Clappagen“ bezeichnet.
Es sind großformatige, gefaltete und bemalte Arbeiten auf festem Karton. Sie stehen frei im Raum und Teile der Motive oder Teile der Gesichter lassen sich heraus- und aufklappen.
Clappage von Hans Graeder
Diafilm war in den 1970/80er-Jahren für viele Künstler:innen ein hochinteressantes Medium und Experimentierfeld. Wie Graeder dazu kommt, dieses Material zu nutzen, ist unklar, aber er hat es künstlerisch bis an die Grenze seiner Möglichkeiten ausgereizt.
Scans von Graeders 4 x 4 Dias
Im Format von 4 x 4 Zentimetern entstehen eigenständige Arbeiten: Collagen, in denen er die Motive aus kleinen Folienteilen zusammensetzt, farbige Folien übereinander klebt und mit Tusche darauf zeichnet.
Er projiziert diese Arbeiten z. B. auch auf einen dreidimensionalen Hintergrund, fotografiert sie wieder, schneidet sie zu neuen Dias zurecht, färbt sie ein – ein immerwährender Gestaltungsprozess.
Das ganze Experiment gipfelt 1981 in einem Lichthappening, in Zusammenarbeit mit dem damals noch jungen Fotografen Horst Hamann, bei dem die Dias auf den Wasserturm – Mannheims zentralem Wahrzeichen – projiziert werden.
In den späten 1980er-Jahren entwickelt Graeder einen Typus von Collage, der sein Spätwerk prägt. Die Vorlagen dafür sind seine eigenen Bilder!
Er zerschneidet alte Arbeiten aus verschiedenen Werkphasen, zurück bis in die 1950er-Jahre sowie neue Arbeiten in Längsstreifen und klebt sie auf großformatige, ungerahmten Leinwänden zusammen. Die Ausschnitte aus seinen Arbeiten werden zu Fragmenten und verschmelzen in eine neue Bildstruktur.
Mit diesen Kompositionen verbindet Graeder nicht nur verschiedene Bildräume, sondern projiziert auch unterschiedlichen Zeiträume seiner eigenen Biographie hinein ins Heute. Graeder bezeichnet diese Arbeiten „Re-Visionen“.
1990 stellt er sie in der Kunsthalle Mannheim und im Rosengarten Mannheim aus.
Die Mehrdeutigkeit des Begriffes "Re-visonen" ist Graeders künstlerisches Programm und er wählt ihn sehr bewusst:
Zum einen ist es die Überprüfung, Kontrolle und Überarbeitung (Revision) seiner eigenen Arbeit am Ende seines Lebens.
Zum anderen, das spiegelt sich auch an den Titeln der Arbeiten wider, geht es ihm um die Zukunft der Gesellschaft, das Verhalten der Menschen in Politik, in den Medien, die er sehr kritisch sieht.
Auch wir sind von der Flut der Arbeiten in den vier Arbeitsräumen und dem Kelleratelier erschlagen.
Die Atelierwohnung scheint seit zwölf Jahren konserviert. Alles erweckt den Eindruck, als wäre Hans Graeder kurz weggegangen und käme gleich zum Arbeiten zurück.
Begonnene Zeichnungen liegen auf der Arbeitsplatte, gerahmte Arbeiten sind mal kurz auf die Seite gestellt. Alles ist unsortiert, selten sind Arbeiten signiert. Auch für uns ein große Herausforderung.
Wir finden Kisten mit hunderten von Dias. Beim Sichten stellt sich heraus, dass Graeder fast alle seine Arbeiten fotografiert hat. Auch wenn sie keine Jahreszahlen und Titel haben, geben sie einen Überblick über sein künstlerisches Schaffen und die Ideen, die ihn beschägtigt haben.
Und so haben wir, neben den fantastischen Dia-Collagen, quasi ein kleines digitales Werkverzeichnis. Mit Unterstützung des Kulturamtes Mannheim werden sie digitalisiert. Wir übernehmen nur einen Kernbestand.
Impressum
Hans Graeder (1919-1998) ist ein Projekt der Künstlernachlässe Mannheim
Herausgeber und Copyright: Künstlernachlässe Mannheim, 2025
Texte: Silvia Köhler
Redaktion: Sophia Denk, Silvia Köhler
Umsetzung: Sophia Denk
Realisiert mit PAGEFLOW
Bildmaterial: Künstlernachlässe Mannheim, MARCHIVUM, H.-J. Schröder und aus Privatbesitz.
Künstlernachlässe Mannheim, Waldparkstr. 28A, 68163 Mannheim gesetzlich vertreten durch Silvia Köhler
Telefon: 0151 287 07 629
E-Mail: info@kuenstlernachlaesse-mannheim.de
www.kuenstlernachlaesse-mannheim.de
Verantwortlich im Sinne des Rundfunkstaatsvertrags: Silvia Köhler, Künstlernachlässe Mannheim, Waldparkstr. 28A, 68163 Mannheim