Ilana Shenhavs künstlerische Arbeiten entziehen sich einer einfachen Einordnung. Sie umfassen flüchtige Zeichnungen alltäglicher Szenen, Acrylwerke mit philosophischen und literarischen Bezügen, schonungslose Porträts und grellbunte Filzstiftzeichnungen.
Ihr Nachlass wurde über Jahre hinweg aus verschiedenen Quellen zusammengetragen und dokumentiert.
Ilana Shenhav wird 1931 als Ella Herrmann in Ostrava geboren. Ihre Eltern sind deutschstämmige tschechische Staatsbürger und gehören der jüdischen Glaubensgemeinschaft an.
Nach der Besetzung der Tschechoslowakei 1939 flieht die Familie nach Prag. Ihr Vater engagiert sich im Widerstand und wird 1940 verhaftet. Er stirbt 1941 unter ungeklärten Umständen in der Haft.
Ilana ist 11 Jahre alt, als sie und ihre Mutter im Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert werden.
Im Ghetto leben die Kinder getrennt von ihren Eltern in sog. Kinderheimen.
Dort erhalten sie Unterricht von anderen Inhaftieren.
Ilana lernt Zeichnen bei der reformpädagogischen Künstlerin Friedl Dicker-Brandeis.
Fast 6.000 Zeichnungen der Kinder sind erhalten und befinden sich heute im Jüdischen Museum Prag. Darunter auch zehn Arbeiten von Ilana Shenhav.
Friedl Dicker-Brandeis (1898-1944), eine Bauhaus-Künstlerin, war Malerin, Designerin, Kunsthandwerkerin und Innenarchitektin jüdischer Abstammung. Sie wird 1942 nach Theresienstadt deportiert.
Dort unterrichtet sie die Kinder nach ihren reformpädagogischen Konzepten. Diese stellen das Kind und seine Freiheit mit dem Ziel der Selbstständigkeit in den Mittelpunkt.
Sie fördert deren kreativen Ausdruck trotz der unsäglichen Umstände im Lager.
Ilana nimmt an ihrem Unterricht teil und bewahrt Erinnerungen daran ein Leben lang.
Am 5. Februar 1945 kommen 1.200 Inhaftierte aus Theresienstadt nach St. Gallen in die Schweiz. Darunter auch Ilana und ihre Mutter.
Möglich wurde dies durch Verhandlungen zwischen dem Schweizer Bundesrat Jean-Marie Musy (1876-1952) und Heinrich Himmler (1900-1945).
In der Schweiz besucht Ilana auch die reformpädagogische Schule Ecole de L’Humanité , die einen großen Einfluss auf sie ausübt.
Nach Ende des Zweiten Weltkrieges kehren Ilana und ihre Mutter im Spätsommer 1945 nach Prag zurück. Sie leben ab 1946 in Bohumin (Oderberg). Die Mutter heiratet noch einmal.
Ilana besucht dort das Realgymnasium und absolviert zudem das Staatsexamen für englische Sprache an der Karls-Universität in Prag.
1949 wandert Ilana Shenhav mit ihrer Mutter und ihrem Stiefvater nach Israel aus. In den ersten Jahren arbeitet sie in einem Kibbuz, bevor sie nach Tel Aviv zieht und ein Lehrerseminar besucht.
Sie unterrichtet zunächst an einer Grundschule und später als Zeichen- und Englischlehrerin in Haifa.
1964 heiratet sie Felix Abraham Shenhav. Von 1965 bis 1968 studiert sie an der Kunstakademie Tel Aviv.
Schon vor ihrer Heirat und dem Studium hat sie erste Einzelausstellungen in Haifa.
Die Arbeiten aus dieser Zeit betonen die Linie – Farbe spielt nur eine Nebenrolle. Nach ihrem Studium kann sie mit weiteren Ausstellungen in Tel Aviv an diese Erfolge anknüpfen.
1970 kommt Shenhav im Alter von 39 Jahren nach Deutschland. Der Auslöser für diese Entscheidung lässt sich nicht mehr rekonstruieren.
Sie lebt zunächst in München und unternimmt Reisen durch Europa, etwa nach Frankreich und lebt kurze Zeit in Köln und Essen.
Ab 1972 lebt sie in Mannheim und beginnt sie dort eine Arbeit in der Bildredaktion am Bibliographischen Institut Mannheim.
Sie hat viele Einzelausstellungen in kleinen Galerien Mannheims und der Region und beteiligt sich an zahlreichen Gruppenausstellungen.
Die Zeichnung blieb für viele Jahre Shenhavs bevorzugte Ausdrucksform. In Gesprächen, in der Straßenbahn oder auf kleinen Kärtchen hält sie Menschen, Ideen und Situationen fest.
Ihre Striche mit Kugelschreiber, Tusche oder Fineliner sind streng und sicher, doch die daraus entstehenden Figuren wirkten oft vegetativ, haltlos und skurril.
o.T., o.J., Kugelschreiber auf Papier, 15 x 10,5 cm
o.T. (tanzende Frau), o.J., Filzstift auf Papier, 28.1 x 20.9 cm
o.T. (Gesichter), o.J., Kugelschreiber (schwarz) auf Papier, 15 x 11 cm
o.T. (Porträt Frau), o.J., Kugelschreiber (schwarz) auf Papier, 15 x 10, 5 cm
Oft bestehen ihre Zeichnungen aus einer einzigen Linie. Die häufig extrem kleinformatigen Arbeiten lassen sich als expressiv beschreiben und sind von ihrer gestischen Gestaltungsweise geprägt.
Die Themen ihrer Zeichnungen reichen von figurativ bis abstrakt. Viele Papierarbeiten zeigen amorphe Gebilde, in einer Mischung aus Gouache- und Aquarell-Technik.
In den 1970er-Jahren nutzt Shenhav intensiv, aber kurzfristig, Filzstifte zum Zeichnen. Die stark farbigen Blätter wirken lebhaft und voller Rätsel.
Der Strich bleibt präzise, zwischen den abstrakten Farbformen setzt sie Figuren, Köpfe und Tiere. Oft klebt sie collageartige kleine Bleistiftzeichnungen dazu.
Die Freundschaft mit dem jüdischen Schriftsteller und Publizisten Siegfried Einstein (1919-1983) und seiner Frau Ilona ist für Ilana Shenhav sehr wichtig und gibt ihr viel Halt.
Er teilt mit Ilana ein ähnliches Schicksal: Einsteins Vater schickt ihn mit 15 Jahren zum Schutz vor antisemitischen Ausschreitungen in Laupheim/Ulm in ein Internat nach St. Gallen.
Siegfried Einstein bei einer politischen Veranstaltung auf dem Alten Messplatz Mannheim, 1960er-Jahre
Ab 1954 arbeitet Einstein als Dozent an der Abendakademie Mannheim. Um ihn bildet sich ein fester Kreis von Gleichgesinnten, zu dem auch Shenhav gehört.
Einstein ist politisch sehr aktiv und engagiert sich gegen Antisemitismus und die Wiederbewaffnung in Deutschland.
Nicht nur durch Siegfried Einstein hat Ilana Shenhav viele Kontakte in die literarische Szene.
Immer wieder illustriert sie Gedichte und Texte, vor allem von regionalen Autorinnen. Es sind Frauen, die sich wie Shenhav gesellschaftlich und politisch engagieren.
Shenhavs Illustration zu Sommer
Flink lief der Zeiger der Sonne wies auf das Helle und Bunte gab den Takt an als Metronom
Durch Licht und Schatten drang unser Lachen
Danielle Schönwitz (aus: Reflexion, 1981)
Musik hat für Ilana Shenhav einen hohen Stellenwert in ihrer künstlerischen Arbeit.
Viele Papierarbeiten und Gemälde entstehen in Auseinandersetzung mit und zur Musik.
Béla Bartók ist in der klassischen Musik einer ihrer Lieblingskomponisten. In der Galerie und Klavierhaus Andreas Weng in Mannheim stellt sie 1981 Zeichnungen aus, die von seiner Musik inspiriert sind
Auch in ihren Gemälden setzt Ilana Shenhav sich häufig mit philosophischen und literarischen Themen auseinander. Titel wie „Wo wars du Adam? Böll“ oder „Freiheit ist immer dir Freiheit des Andersdenkenden“ beziehen sich direkt auf Heinrich Böll bzw. Rosa Luxemburg.
Wo warst du Adam? Böll, o.J., Acryl auf Leinwand, 100 x 100 cm
Sturm, o.J., Acryl auf Leinwand, 100 x 100 cm
Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden, o.J., Acryl auf Leinwand, 100 x 70 cm
Diese Arbeiten sind meist informelle Kompositionen, in denen sie warme Farbtöne wie Orange, Gelb, Ocker und Siena komplementären Farben wie Blaugrün gegenüberstellt. Unterschiedlich große, organisch wirkende Farbfelder erstrecken sich über die Leinwände und greifen ineinander, verschmelzen teilweise miteinander und bilden neue Farbformen.
Neben den informellen Kompositionen malt Shenhav auch Porträts. Häufig sind es Freunde oder Personen des öffentlichen Lebens, die sie fast karikativ und in ungewöhnlichen grellen Farbtönen darstellt.
Sie wendet sich bewusst gegen das Schöntun der Porträtmalerei und versucht Wesentliches darzustellen. Das geht manchmal auch auf Kosten der Porträtierten.
Ilana Shenhav mit ihrem Selbstporträt
o.T. (Porträt Mann), o.J., Acryl auf Leinwand, 100 x 70 cm
Lona Caris wird energisch, o.J., Acryl auf Leinwand, 80 x 70 cm
1984 stellt sie diese Porträts in der Galerie Klapsmühl am Rathaus in Mannheim aus. Heike Marx schreibt dazu:
In der Mitte prangt sie selbst als besonders groteskes Beispiel abschreckender Hässlichkeit, auf dass alle Konterfeiten narzisstische Selbstgefälligkeit überwinden mögen.
Ilana Shenhav in der Ausstellung Klapsmühl am Rathaus Mannheim, 1984
Ilana Shenhav sucht ihr Leben lang einen festen Platz, einen Ort als Heimat – als Mensch, als Frau, als Künstlerin. Sie wollte angenommen werden, hat immer wieder an allem gezweifelt, ihr Lebenswille war oft am Ende.
Ihre Lebensgeschichte hat sie und ihre künstlerische Arbeit stark geprägt. Ilana Shenhav stirbt mit nur 54 Jahren 1986 an einer Krebserkrankung.
Was bleibt sind ihre Bilder, die ihr geholfen haben, ihre traumatischen Erlebnisse aus der Kindheit zu verarbeiten und zu überwinden.
Impressum
Ilana Shenhav (1931-1986) ist ein Projekt der Künstlernachlässe Mannheim
Herausgeber und Copyright: Künstlernachlässe Mannheim, 2025
Texte: Sophia Denk, Silvia Köhler
Redaktion: Sophia Denk, Silvia Köhler
Umsetzung: Sophia Denk
Realisiert mit PAGEFLOW
Bildmaterial: Künstlernachlässe Mannheim, MARCHIVUM, United States Holocaust Memorial Museum, H.-J. Schröder und aus Privatbesitz.
Künstlernachlässe Mannheim, Waldparkstr. 28A, 68163 Mannheim gesetzlich vertreten durch Silvia Köhler
Telefon: 0151 287 07 629
E-Mail: info@kuenstlernachlaesse-mannheim.de
www.kuenstlernachlaesse-mannheim.de
Verantwortlich im Sinne des Rundfunkstaatsvertrags: Silvia Köhler, Künstlernachlässe Mannheim, Waldparkstr. 28A, 68163 Mannheim