Walter Stallwitz ist 1929 in Mannheim-Gartenstadt geboren. Er ist der jüngste von drei Geschwistern.
Der Haushalt ist politisch geprägt. Der Vater engagiert sich gegen die Nationalsozialisten.
Sein älterer Bruder Paul stirbt im Zweiten Weltkrieg. Damit Walter kurz vor Kriegsende der Einberufung entgeht, versteckt ihn der Vater bei Bauern.
In der Familie wird viel gelesen und diskutiert. Stallwitz interessiert sich sehr für Literatur, zeichnet und malt aber auch gerne.
Der Vater besteht auf einer Lehre als Maler und Tüncher, aber nach einem Streit mit dem Meister wird Stallwitz entlassen.
Gegen den Willen der Eltern besucht Stallwitz ab 1946 die Freien Akademie Mannheim und studiert bei Paul Berger-Bergner (1904 – 1978) und Franz Albert Schumacher (1908 – 1968).
Nach der Blut- und Bodenideologie in der NS-Kunst ist die Akademie in diesen Jahren ein Ort, an dem die StudentInnen und Lehrer die neu gewonnene Freiheit auskosten: Sie ist ein Raum der Bildung, der Begegnungen, des Austauschs von Ideen und Konzepten.
Walter Stallwitz und Willi Wernz waren Studienkollegen und Freunde an der Freien Akademie. Wernz war zehn Jahre älter als Stallwitz, aber in der Akademie spielte das Alter keine Rolle. Alle waren ständig zusammen, haben gefeiert, gelernt und die offene Atmosphäre genossen.
1950 macht sich Stallwitz als Künstler selbständig. Sein Atelier ist eine Gartenhütte in Mannheim-Niederfeld, in der er unter allereinfachsten Umständen lebt.
Als Wandereisverkäufer verdient er etwas Geld. In dieser Zeit lernt er Irma Schweitzer kennen, die er 1959 heiratet.
Aber eine Tuberkulose zwingt ihn zu mehreren Aufenthalten in Sanatorien.
1953 hat er eine erste Ausstellung. Nach der Ausstellung 1958 im Mannheimer Kunstverein stellt er bis an sein Lebensende regelmäßig in Mannheim und der Region aus, 1970 und 1992 z. B. in der Kunsthalle Mannheim.
Seit 1956 unterrichtet er an der Abendakademie Zeichnen. Den Austausch mit den SchülerInnen liebt er sehr.
Ab 1985 unterrichtet er auch Malerei an der Freien Kunstakademie.
Nach der Renovierung der Alten Sternwarte 1958 vermietet die Stadt die einzelnen Stockwerke als Ateliers. Walter Stallwitz erhält das 3. OG.
Der Turm wird sein zentraler Arbeitsort. 1984 zieht er in das Atelier im 2. OG und arbeitet dort bis zu seinem Lebensende.
Das Atelier ist heute noch erhalten und kann besichtigt werden.
Schon während des Studiums reist Stallwitz. 1957 erhält er ein Stipendium der Michael-Karolyi-Stiftung in Vence, Südfrankreich.
Mit der Gräfin Katinka Karolyi (1882-1985), die zu diesem Zeitpunkt ein sehr bewegtes politisches Leben hinter sich hat, verbindet ihn eine enge Freundschaft.
1962 ist er auf Einladung der Schriftstellerin Francesca Wilson (1888-1981) in Walberswick, Südengland. Sechs Monate lebt er an diesem Ort am Meer, damals eine Künstlerkolonie. In dieser Zeit entstehen Arbeiten mit dem Thema Strand und Meer.
1) Am Strand, 1963, Tusche auf Papier, 70 x 95, 2) Am Meer, 1960, Tusche und Kreide auf Papier, 60 x 80 cm
1964 geht er mit seinem Freund, Sudhir Kakar (1938-2024), der in Mannheim studiert, nach Indien. Ein halbes Jahr reist Stallwitz mit der Bahn, zu Fuß und fast mittellos durch das damals touristisch noch unerschlossene Land.
Stallwitz ist sehr politisch und gesellschaftlich engagiert. Seine Haltung thematisiert er auch in seinen Arbeiten. In den 1970er-Jahren unterstützt er die SPD im Wahlkampf für Willy Brandt.
1983 erhält er das Bundesverdienstkreuz. Er gibt es ein Jahr später zurück, weil er die Asylpolitik der Bundesregierung für falsch hält.
1) o. T. (Schwarze Kinder vor Hochhäusern), 1987, Acryl auf Leinwand, 120 x 90 cm, 2) Rücksichtslos, 1990, Acryl auf Leinwand,180 x 100 cm, 3) Das Boot ist voll, 2007, Acryl auf Leinwand,120 x 90 cm
Stallwitz' Verständnis von Kunst, Kultur und Gesellschaft ist geprägt durch den französischen Kultursoziologen Pierre Bourdieu (1930 – 2002).
Für Bourdieu gibt es keine „bewertungsfreie Kultur“: Kunst und Kultur ist ein Konsens, den Menschen innerhalb der Gesellschaft miteinander aushandeln.
Stallwitz liebt es, sich mit Menschen auszutauschen. Daher sind sie in seiner Kunst von Beginn an ein Thema.
In den 1960er-Jahren wird für ihn die Universität Mannheim ein Ort politischer Öffentlichkeit. Er porträtiert u. a. Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass, Uwe Johnson oder Bohumil Hrabal, alles Personen, die Gerhard Portele für die Uni Gazette zu Interviews und Diskussionen einlädt.
Porträts bleiben ein zentrales Thema. Sie sind auch eine gute Möglichkeit, Geld zu verdienen. Ab den 1980er Jahren porträtiert Stallwitz viele FreundInnen und bekannte MannheimerInnen.
In diesen Arbeiten setzt er sich ausgiebig mit dem Menschen auseinander, der vor ihm im Atelier sitzt. Es geht ihm dabei nicht um eine korrekte Darstellung von Äußerlichkeiten.
1) Porträt Philip Astor, 1984, Acryl auf Leinwand, 90 x 70 cm, 2) Porträt Prof. G. Biemer, 1982, Acryl auf Leinwand, 120 x 90 cm
Stallwitz wechselt für diese Arbeiten bewusst seine Technik. Damit, und durch die Acrylfarben, die er verwendet, gelingt es ihm, den Charakter seines Gegenübers wiederzugeben.
Erstaunlicherweise verschwindet, neben den Porträts, Ende der 1960er-Jahre der Mensch als reales Abbild aus Stallwitz‘ Arbeiten.
Er ist nur noch als Schatten oder als sich verdichtende Linien sichtbar.
Diese Art der Malerei fällt zusammen mit Stallwitz‘ Naturell, die Verhältnisse – und damit auch die gesellschaftlichen Strukturen – zu hinterfragen.
1) o. T., 1995, Kreide auf Tonpapier, 100 x 70 cm, 2) Geflecht, 1989, Copyart, 63 x 49 cm, 3) o. T., 1969, Sprühfarbe, Tusche auf Papier, 81 x 63 cm
Er greift damit aktuelle gesellschaftliche Diskussionen auf und thematisiert die Frage nach der menschlichen Identität, das gestörte Verhältnis sowie die Entfremdung des Menschen zu seiner Umwelt.
Am Beginn dieser Entwicklung entstehen Zeichnungen aus Liniennetzen und Strichsystemen, auf denen die Figuren nur durch sich verdichtende Linien sichtbar werden.
1) o. T., 1967, Pastell, Sprühfarbe auf Papier, 80 x 60 cm, 2) Walter Stallwitz, Verflochten, 1968, Sprühfarbe und Acryl auf Spanplatte, 90 x 72 cm, 3) o. T., 1967, Bleistift, Pastell, Wachsmalkreide auf Papier, 80 x 60 cm
Zeitgleich entsteht die Serie „Transformationen“, in der Stallwitz das Auflösen der Figuren auf Räume überträgt, in denen die Menschen leben.
1) Trautes Heim ( Transformation), 1972, Mischtechnik auf Sperrholz, 84,5 x 104 x 63 cm, 2) Interieur (Transformation), 1970, Collage, Tusche, und Acryl auf Fotopapier, 80 x 60 cm, 3) Verstrickt (Transformation), 1969, Fotografie (überarbeitet, mit Einschnitten auf der Oberfläche), 80 x 60 cm
Aus der Werbung kopiert er menschenleere Abbildungen von Einrichtungen, schneidet Teile daraus aus, vergrößert sie, klebt sie auf und übermalt sie mit den fehlenden Menschen als ausdrucklose, gespenstisch wirkende Schatten.
Diese Transformationen überträgt Stallwitz auf seine Acryl-Bilder. In Zimmern, an Tischen, auf Sesseln, regungslos vor dem Fernseher sitzen nur noch menschliche Hüllen.
1) Liebespaar, 1992, Acryl auf Leinwand, 139 x 110 cm, 2) Erscheinung, 1993, Acryl auf Leinwand, 130 x 100 cm
Ein eindrucksvolles Beispiel ist die Arbeit Selbstporträt :
Stallwitz' Acryl-Arbeiten bestechen durch einen enormen Reichtum an farblicher Differenzierung.
Der Auswahl der Farben gehen viele Versuche voraus. Er mischt die Farben sehr genau und stellt sie in Paaren oder Gegensätzen zusammen.
Auch das Licht, das auf die Farben fällt, kalkuliert er genau ein: Er setzt oft weiße Glanzlichter auf die Oberfläche oder überstreicht die Flächen mit Klarlack.
Der umgebende Raum auf Stallwitz' Arbeiten ist kein beschützender Raum: Manchmal nur mit einigen Strichen angedeutet, manchmal detailliert ausgearbeitet, wird er zur Bühne, zum Käfig und unterstreicht die Auflösung des Subjekts, den Verlust der Persönlichkeit des Menschen.
1) o. T., o. J., Mischtechnik auf Papier, 2) Gestalt verflochten, 1966, Acryl auf Spanplatte, 100 x 70 x 112 cm, 3) Isoliert und verbunden, 1970, Lithografie, 75,5 x 53,5 cm
Stallwitz rahmt seine Bilder nicht, sondern malt einen Rahmen. Oft sind diese gemalten Rahmen ganz ausführlich ausgestaltet, sehr breit und beinhalten Farben, die zu den Farben in der Arbeit passen, auch bei Arbeiten auf Papier.
Mit seinen Arbeiten will Stallwitz, so sagt er selbst, evozieren – also Stimmungen und Emotionen hervorrufen. Daher sind für ihn Farben, Farbzusammenhänge, Farbbeziehungen wichtig.
In diesem Kontext ist auch klar, dass er mit seiner Malweise ganz realistisch bleibt: Denn er ist an der Darstellung dessen interessiert, was er in der Welt (vor)-findet – er erfindet nichts neues oder sich selbst.
Impressum
Walter Stallwitz (1929-2022) ist ein Projekt der Künstlernachlässe Mannheim
Herausgeber und Copyright: Künstlernachlässe Mannheim, 2024
Texte: Silvia Köhler
Redaktion: Sophia Denk, Silvia Köhler
Umsetzung: Sophia Denk
Realisiert mit PAGEFLOW
Bildmaterial: Künstlernachlässe Mannheim, Kathrin Schwab, Manfred Rinderspacher und aus Privatbesitz
Künstlernachlässe Mannheim, Waldparkstr. 28A, 68163 Mannheim gesetzlich vertreten durch Silvia Köhler
Telefon: 0151 287 07 629
E-Mail: info@kuenstlernachlaesse-mannheim.de
www.kuenstlernachlaesse-mannheim.de
Verantwortlich im Sinne des Rundfunkstaatsvertrags: Silvia Köhler, Künstlernachlässe Mannheim, Waldparkstr. 28A, 68163 Mannheim